Im Gedenken an Gökhan Gültekin, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar, Vili Viorel Paun, Hamza Kurtovic, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz und Kaloyan Velkov. Anlässlich des Jahrestages ihrer Ermordung durch einen rassistischen Verbrecher geben die Grünen Hanau die folgende Erklärung ab:
Die Angehörigen der Ermordeten und weitere Opfer und Betroffene haben ein Recht darauf, dass die Geschehnisse, Abläufe und Beteiligungen der Vorgänge des 19.02.20 umfassend und lückenlos aufgeklärt werden; darüber hinaus hat auch die Öffentlichkeit ein Recht auf Aufklärung. Seit einem Jahr wird die Ermittlung der Abläufe geführt. Die Ergebnisse werden bislang zurück gehalten.
Wann sind die Untersuchungsergebnisse zur Tatnacht endlich zu erwarten? Wir fordern von der Generalbundesanwaltschaft einen Zeitplan! Hierfür trägt die Bundesregierung letztlich die politische Verantwortung.
Seit dem 19.02.2020 geht es bereits um die Konsequenzen, die sich aus der Aufklärung der Taten ergeben. Die Konsequenzen in politischer und gesellschaftlicher Sicht müssen darauf abzielen, eine solche Tat nie wieder auf Hanauer Boden geschehen zu lassen. Daraus ergibt sich eine Fülle von politischen Maßnahmen auf der Ebene der Stadt Hanau vor allem im Bereich der Prävention von rechter Gesinnung und rechter Gewalt.
Wir sehen uns hier in der Pflicht, unseren Beitrag zu leisten, Ideen und Konzepte zu entwickeln, eng mit den Institutionen und Organisationen im lokalen Umfeld zu kooperieren. Wir werden Hass und Hetze im Parlament, auf den Straßen und Plätzen, in der Gesellschaft, in den Schulen, den Familien und den Vereinen bekämpfen. Wir wollen keine rechte rassistische Gewalt in Hanau. Wir werden den Anfängen wehren. Wir wollen aber vor allem die Opfer und die Angehörigen der Opfer unterstützen; insbesondere dort, wo wir in den Parlamenten Einfluss nehmen können. Wir setzen uns dafür ein, dass die Opfer und die Angehörigen der Opfer die versprochene Hilfe und angemessene materielle Unterstützung erhalten. Wir wollen ein überzeugendes Konzept für das Mahnmal des Gedenkens an die Opfer. Wir stellen uns der gesellschaftliche Aufgabe: „Was können wir lernen, damit so etwas nie wieder passiert?“
Die Grünen Hanau sind über die aktuell in den Medien veröffentlichten Fehlleistungen entsetzt und fordern, dass auf allen Ebenen Transparenz hergestellt wird. Dazu müssen u.a. die folgenden Fragen beantwortet werden:
– Wieso konnte der Täter in den Besitz eines Waffenscheins gelangen, Waffen und Munition kaufen?
– Wieso sind dessen Verschwörungsmythen nicht Anlass genug, die Waffenbesitzkarte zu entziehen?
– Wie viele Notrufe sind in der Tatnacht bei der Polizei eingegangen und nicht entgegen genommen worden?
– Wie ist die Unterbesetzung der Notrufzentrale in der Polizeidienststelle in Hanau zu erklären?
– Wie kann die Differenz erklärt werden zwischen den Schilderung der Zeugen und der Darstellung der Polizei, dass sie wenige Minuten nach dem Eingang in der Notrufstelle bereits am Tatort war; Zeugenaussagen legen nahe, dass der Einsatz vor Ort bei 20 Minuten lag?
– Wie schnell haben Polizei und Rettungssanitäter in der Arena-Bar agiert?
– Warum wurde Piter Minnemann in der Tatnacht 3 km zu Fuß in die Innenstadt zur Polizei geschickt, obwohl der Täter noch nicht tot bzw. gefasst war?
– Warum gab es später Gefährderansprachen an die Überlebenden und Angehörigen – aber keine Gefährdetenansprachen, obwohl der Vater des Täters zurück in Kesselstadt war?
Vieles ist aus unserer Sicht unerträglich, wenn wir uns in die Lage der betroffenen Opfer und der Angehörigen der Opfer versetzen. Es mutet zynisch an, wenn ein Landtagsabgeordneter dem Opfer Vili-Viorel Paun eine Mitschuld an seinem Tod quasi selbst zuschreibt. Wen – wenn nicht die Polizei – soll man anrufen, wenn es darum geht, einen bewaffneten Täter zu stoppen?
Der Innenminister des Landes Hessen muss die Fragen zum „Polizeinotruf 110 Hanau“ als politisch Verantwortlicher aufklären. Das Eingeständnis, dass nach seinem „Kenntnisstand …die Polizeistation in Hanau nur eine begrenzte Anzahl von Anrufen in dieser Nacht entgegen nehmen konnte“ (Stellungnahme 02.02.2021) offenbart, dass möglicherweise keine genaue quantifizierbare Anzahl der Anrufe ermittelt wurde und die technischen Voraussetzungen immer noch nicht gegeben sind. Die Umschaltung auf das Polizeipräsidium Südosthessen in Offenbach erfolgt nach seiner Fertigstellung in diesem Jahr. Jetzt wurde ein Weiterleitungskonzept auf das Polizeipräsidium in Frankfurt entwickelt, „das noch in diesem Monat fertiggestellt werden soll“. Wir wundern uns, dass dies erst unter dem Druck der Öffentlichkeit geschieht bzw. mitgeteilt wird.
Dies alles weckt Zweifel, ob der Innenminister seiner Verantwortung für die Ausstattung und die Führung der Polizei in vollem Umfang gewachsen ist. Diese Zweifel verfestigen sich vor dem Hintergrund der illegalen Datenabfragen in Polizeidienststellen auf Adressangaben von Politiker:innen, Journalist:innen, Rechtsanwält:innen und andere Personen des öffentlichen Lebens. Welche Rolle die dem Innenministerium unterstehende Verfassungsschutzbehörde des Landes Hessen im Zusammenhang mit den NSU-Morden gespielt hat, ist Gegenstand des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Landtages. Durch Sperrung der Akten, Rückhaltung und Schwärzung von Akten können wir den Aufklärungswillen des Innenministeriums nicht bestätigt sehen.
In der Wahrnehmung der Verantwortung des Landes für die Folgen des 19.02.20 fordern wir den Innenminister auf aktiv zu werden und nun unter Beweis zu stellen, dass er sich dem Rechtsradikalismus und Rassismus mit ganzer Kraft entgegenstemmt.
gez. Robert Erkan, Wilhelm Guth, Josephine Lamß, Stefan Weiß, Anja Zeller